15. Mai 1955: Der österreichische Staatsvertrag
Der Österreichische Staatsvertrag, im
Langtitel Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und
demokratischen Österreich, gegeben zu Wien am 15. Mai 1955, juristisch kurz
Staatsvertrag von Wien, wurde am 15. Mai 1955 in Wien im Schloss Belvedere von
Vertretern der alliierten Besatzungsmächte USA, Sowjetunion, Frankreich und
Großbritannien sowie der österreichischen Bundesregierung unterzeichnet und
trat am 27. Juli 1955 offiziell in Kraft.
Gegenstand
dieses Vertrages ist die Wiederherstellung der souveränen und demokratischen
Republik Österreich nach der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich
von 1938 bis 1945, dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der darauf folgenden
Besatzungszeit von 1945 bis1955. Während dieser Besatzungszeit war Österreich
zwar formal wiederhergestellt, aber noch kein selbständiger Staat. Dieser
Staatsvertrag gilt auch als ein wesentlicher Faktor für die Entwicklung eines
eigenständigen Österreichbewußtseins.
Im
Bundesgesetzblatt Nr. 152 vom 30. Juli 1955 steht geschrieben:
Staatsvertrag,
betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen
Österreich. Dieser besteht aus einer Präambel und neun Teilen:
1.Politische
und territoriale Bestimmungen
2.Militärische
und Bestimmungen über die Luftfahrt
3.Reparationen
4.Zurückziehung
der Alliierten Mächte
5.Eigentum,
Rechte und Interessen
6.Wirtschaftsbeziehungen
7.Regelung
bei Streitfällen
8.Wirtschaftsbestimmungen
9.Schlussbestimmungen
Österreich
verpflichtete sich im Vertrag, keine wie immer geartete politische oder
wirtschaftliche Vereinigung mit Deutschland einzugehen (Art. 4,
Anschlussverbot). (Diese Verpflichtung wurde von der Sowjetunion jahrzehntelang
dazu genützt, den Beitritt Österreichs zur EWG zu beeinspruchen;)
die
Minderheitenrechte der Slowenen und Kroaten zu gewährleisten (Art. 7 Abs. 2 und
3). Mediale Präsenz erreichte hierbei vor allem der sogenannte Ortstafelstreit
– andere Punkte bezüglich der Minderheitenrechte, wie im Staatsvertrag
festgeschrieben, sind bis dato nicht erfüllt;
eine
demokratische, auf geheimen Wahlen gegründete Regierung zu unterhalten (Art.
8). Dies war zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses längst der Fall;
alle
nationalsozialistischen Organisationen aufzulösen und keine Wiederbetätigung
von nazistischen und faschistischen Organisationen zuzulassen (Art. 9 und 10,
vgl. Verbotsgesetz 1947, das nach wie vor gilt);
das
Habsburgergesetz beizubehalten (Art. 10), was bis heute der Fall ist;
Personen, die
in der deutschen Wehrmacht im Rang eines Obersts oder höher tätig waren oder
die als gewesene Nationalsozialisten von Österreich nicht entlastet wurden,
nicht ins Bundesheer aufzunehmen (Art. 12; 2008 vom Nationalrat als nicht mehr
geltend festgestellt), und
nicht an der
Wiederbewaffnung Deutschlands mitzuwirken (Art. 15 Z. 2; 2008 vom Nationalrat
als nicht mehr geltend festgestellt).
Diese
Bestimmungen stehen, soweit sie noch gelten, auf Grund eines am 4. März 1964
beschlossenen Bundesverfassungsgesetzes
in Verfassungsrang.
Österreich
verpflichtete sich weiters, der Sowjetunion das bis dahin von ihr verwaltete
deutsche Eigentum abzulösen, es aber nicht an die früheren deutschen Eigentümer
zurückzustellen. Innerhalb von sechs Jahren waren an die UdSSR rund 150
Millionen Dollar zu zahlen. Die Alliierten verpflichteten sich, binnen 90 Tagen
nach In-Kraft-Treten des Vertrags ihre Truppen von österreichischem
Staatsgebiet abzuziehen.
Die vom
Nationalrat am 26. Oktober 1955 verfassungsgesetzlich beschlossene
immerwährende Neutralität wird oft fälschlich als Teil des Staatsvertrages
betrachtet, steht mit diesem aber in keinem rechtlichen Zusammenhang. Es bestand
jedoch ein (heute nicht mehr relevanter) politischer Zusammenhang, der unter
Moskauer Memorandum näher beschrieben wird.
Obsolete
Bestimmungen
In Hinblick
auf die veränderte Weltlage hat die österreichische Bundesregierung in einer
Erklärung vom 20. November 1990 an die vier anderen Signatarstaaten des
Staatsvertrages die militärischen und Luftfahrtbestimmungen (Art. 12–16) für
obsolet erklärt. Die Art. 12 und 15 Z. 2 wurden außerdem 2008 als nicht mehr
geltend festgestellt.
Anspruch auf
Rechtsnachfolge
Ein
Signatarstaat des Staatsvertrages, die Sowjetunion, und das dem Vertrag
beigetretene Jugoslawien bestehen nicht mehr. Bundespräsident Klestil betonte
1992, für zerfallene Staaten gebe es keine automatische Rechtsnachfolge. 1993
hielten die Russische Föderation und Österreich in einem 1994 vom Nationalrat
als Staatsvertrag beschlossenen Notenwechsel (der drittletzte Absatz wurde
durch § 7 Z. 78 des 1. BVRBG 2008 in einfachgesetzlichen Rang zurückgestuft)
fest, wie mit den aus der Zeit der Sowjetunion stammenden Vereinbarungen
umzugehen sei. Der Staatsvertrag, zu dem damals mit Russland keine offenen
Fragen mehr bestanden, wurde in diesem Notenwechsel, der Verträge von 1927 bis
1990 nannte, nicht erwähnt.
Die von
Slowenien betreffend Art. 7 des Staatsvertrags politisch in Anspruch genommene,
aber bis dato formell nicht notifizierte Rechtsnachfolge nach Jugoslawien wurde
von Österreich 2009 und 2010 bestritten. Nach der Lösung der Kärntner
Ortstafelfrage 2011 maß Ministerpräsident Borut Pahor der Notifizierung derzeit
keinen Bedarf zu.
Moskauer
Deklaration
Am 1.
November 1943 wurde von den Außenministern der Sowjetunion, Großbritanniens und
der USA die Moskauer Deklaration beschlossen. Darin erklärten sie einerseits,
„daß Österreich, das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik
Hitlers zum Opfer fallen sollte, von deutscher Herrschaft befreit werden soll“
und „die Besetzung Österreichs durch Deutschland am 15. März 1938 als null und
nichtig“ angesehen wird, hielten anderseits auch fest: „Österreich wird aber
auch daran erinnert, daß es für die Teilnahme am Kriege an der Seite
Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann“.
Verhandlungen
Die erste
frei gewählte Nachkriegsregierung Österreichs unter der Oberaufsicht der
alliierten Besatzungsmächte hatte bereits im Jänner 1947 in London versucht,
einen Friedensvertrag mit den Alliierten auszuhandeln. Ab März 1947 wurden die
weiteren Verhandlungen nach Moskau verlegt. Die Verhandlungsteilnehmer aus den
Reihen der ÖVP unter Führung von Leopold Figl und Julius Raab stimmten den
sowjetischen Forderungen weitgehend zu, während die SPÖ-Verhandler sich, auch
um die Distanz zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten zu wahren, den
sowjetischen Forderungen nicht uneingeschränkt beugen wollten. Erst Bruno
Kreisky, damals Staatssekretär im Außenministerium, konnte als
sozialdemokratischer Delegierter seine Parteikollegen schließlich davon
überzeugen, dass ihre antisowjetische Haltung die Verhandlungen behinderte.
Als
problematisch erwiesen sich für die Verhandlungen zum Staatsvertrag zunächst
jugoslawische Gebietsansprüche auf Teile Südkärntens. Durch den Konflikt
zwischen dem sowjetischen Staatschef Josef Stalin und dem Ministerpräsidenten
der Volksrepublik Jugoslawien Josip Broz Tito im Jahr 1949 verlor dieser Aspekt
für die Sowjetunion an Bedeutung und die bestehenden Grenzen wurden
beibehalten.
Ein
schwerwiegenderes Problem stellten die Fragen zum „deutschen Eigentum“ in
Österreich dar. Das umfasste allen Grundbesitz, der schon vor dem „Anschluss“
Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 deutschen Staatsbürgern gehört
hatte, weiters jeden nach dem „Anschluß“ von Deutschen nach Österreich
gebrachten Besitz sowie mit deutschem Kapital in Österreich errichtete
Industrieanlagen und auch jeden Besitz, der von Deutschen in den Jahren von
1938 bis 1945 in Österreich erworben worden war (ausgenommen waren erzwungene
Käufe und Enteignungen). In der sowjetischen Besatzungszone waren etwa die
gesamte Erdölindustrie, die Donau-Dampfschifffahrts-Gesellschaft und eine Reihe
von Industrieunternehmen (insgesamt rund 300) als deutsches Eigentum
beschlagnahmt worden und standen unter Verwaltung des USIA (Управление
советским имуществом в Австрии, „Verwaltung des sowjetischen Eigentums in Österreich“).
Auf der
politischen Ebene war die vor allem von der Sowjetunion geforderte Verknüpfung
der Verhandlungen mit Österreich mit einem Friedensvertrag zwischen den
Alliierten und Deutschland ein Hindernis auf dem Weg zu einer raschen Einigung.
Mit der Verschärfung des Kalten Krieges wurde auch ein vorgezogener
Staatsvertrag mit Österreich immer unwahrscheinlicher.
Auf
Initiative Brasiliens beschloss die UNO-Vollversammlung am 20. Dezember 1952
eine Resolution mit der ernsthaften Aufforderung an die Regierungen der
Signatarstaaten der Moskauer Deklaration von 1943, unter den Aspekten der
baldigen Beendigung der Besetzung des Landes und der vollen Ausübung der
Souveränität durch Österreich erneute und dringende Bemühungen zur Erreichung
einer Übereinkunft über die Bedingungen eines Vertrages mit Österreich zu
unternehmen.
Erst als
Dwight D. Eisenhower Harry S. Truman als Präsident der USA abgelöst hatte und
Josef Stalin 1953 verstorben war, wurde das Verhandlungsklima zusehends besser.
Nachdem Julius Raab im selben Jahr neuer österreichischer Bundeskanzler
geworden war, änderte sich auch der Verhandlungsstil auf österreichischer
Seite.
An der
Berliner Außenministerkonferenz vom 25. Jänner bis 28. Februar 1954 nahmen auch
Vertreter Österreichs teil. Die Sowjets wollten hier weiterhin nur unter der
Auflage einem Vertrag mit Österreich zustimmen, dass sowjetische Truppen bis
zum Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland im Land stationiert
blieben. Dem stimmten die Westmächte nicht zu und auch Österreich war dagegen.
Als weitere Bedingung nannte der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw
Molotow, dass Österreich ein neutraler Staat sein müsse, was die Westalliierten
befürchten ließ, dass ihre Truppen in Italien durch die neutrale Schweiz und
ein neutrales Österreich vom Hauptkontingent ihrer Streitkräfte in Europa
abgeschnitten werden könnten. Eine Neutralität nach Schweizer Vorbild war
bereits von Karl Renner (SPÖ), von 1945 bis 1950 erster Bundespräsident der
Republik nach dem Zweiten Weltkrieg, vorgeschlagen worden und wurde auch von
seiner Partei unterstützt.
Moskauer
Memorandum
Während die
Bundesrepublik Deutschland 1954 der NATO beitrat, wurden die Verhandlungen über
die volle Souveränität Österreichs in Moskau weitergeführt. Im April 1955 traf auf
Einladung der sowjetischen Regierung unter Georgi Malenkow eine österreichische
Delegation in Moskau ein. Teilnehmer waren Vizekanzler Adolf Schärf (SPÖ),
Außenminister Leopold Figl (ÖVP) und Staatssekretär Bruno Kreisky (SPÖ),
Verhandlungsleiter war Bundeskanzler Julius Raab (ÖVP).
Die Gespräche
von 12. bis 15. April führten zum Durchbruch und gelten auch als Geburtsstunde
der österreichischen Neutralität. Die Sowjets verlangten die Neutralität direkt
im Vertrag zu verankern. Sie betrachteten die immerwährende Neutralität als
Vorbedingung für die Wiedererlangung der Souveränität Österreichs, während die
Verhandler aus Österreich sie davon zu überzeugen suchten, dass nur ein
souveräner Staat seine rechtlich verbindliche Neutralität beschließen kann.
Schließlich
führten die Gespräche zu dem Ergebnis, dass das Neutralitätsgesetz vom freien
und souveränen Staat Österreich beschlossen werden sollte. Im
Abschlussdokument, dem Moskauer Memorandum, wurde festgehalten, dass Österreich
ein neutraler Staat sein würde und die vier alliierten Siegermächte des Zweiten
Weltkrieges die Unversehrtheit und Unverletzlichkeit des Staatsgebietes
garantieren würden. So konnte Raab bei der Rückkehr der Verhandler am Flugplatz
Bad Vöslau am 15. April verkünden: „Österreich wird frei sein“.
Vertragsunterzeichnung
Der Vertrag bei der Ausstellung auf der
Schallaburg, Niederösterreich 2005
Am Tag vor
der Unterzeichnung des Staatsvertrages gelang es Außenminister Figl in den
Schlussverhandlungen in Wien noch, die Nennung der Mitschuld Österreichs am
Zweiten Weltkrieg aus der Präambel des Vertrages zu streichen, wobei in erster
Linie die sowjetische Seite davon überzeugt werden musste. Am 15. Mai 1955
wurde schließlich der Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines
unabhängigen und demokratischen Österreich im Marmorsaal des Schlosses
Belvedere in Wien unterzeichnet.
Der
Staatsvertrag trägt die Unterschriften folgender neun Personen:
1.Wjatscheslaw
Michailowitsch Molotow (Außenminister der Sowjetunion)
2.Iwan
Iwanowitsch Iljitschow (Hochkommissar und Gesandter der Sowjetunion)
3.Harold
Macmillan (Außenminister von Großbritannien)
4.Geoffrey
Arnold Wallinger (Hochkommissar und Botschafter von Großbritannien)
5.John Foster
Dulles (Außenminister der USA)
6.Llewellyn
E. Thompson Jr. (Hochkommissar und Botschafter der USA)
7.Antoine
Pinay (Außenminister von Frankreich)
8.Roger
Lalouette (Stellvertretender Hochkommissar und Gesandter von Frankreich)
9.Leopold
Figl (Außenminister von Österreich)
Der Vertrag
wurde am 7. Juni vom österreichischen Nationalrat ratifiziert. Nach der
Ratifizierung durch alle Signatarstaaten bzw. nach Einlangen der zuletzt von
Frankreich unterzeichneten Zustimmungserklärung in Moskau, dem Aufbewahrungsort
des österreichischen Staatsvertrages im Original, trat dieser schließlich am
27. Juli 1955 in Kraft. Für den Abzug der Besatzungssoldaten und deren
mittlerweile zahlreich ansässigen Angehörigen der Besatzungsmächte war im
Vertrag der Zeitraum bis längstens 90 Tage nach In-Kraft-Treten vereinbart,
somit bis 25. Oktober 1955. Am 26. Oktober, einen Tag nach der gesetzten Frist,
beschloss der Nationalrat, nach Schweizer Vorbild und dem Moskauer Memorandum
entsprechend, die immerwährende Neutralität und nahm die Neutralitätserklärung
in Form eines Bundesverfassungsgesetzes, des Neutralitätsgesetzes, in den
Verfassungsrechtsbestand auf. Damit erklärte Österreich, keinen militärischen
Bündnissen beizutreten, keine fremden militärischen Stützpunkte auf seinem
Territorium zuzulassen und seine Unabhängigkeit mit allen gebotenen Mitteln zu
verteidigen. Erst seit 1965 wird der 26. Oktober im Gedenken daran als
österreichischer Nationalfeiertag (zuvor: Tag der Fahne) begangen, seit 1967
ist dieser Tag arbeitsfrei. Die oft verwendete Erzählung, am 25. Oktober 1955
habe der letzte russische Besatzungssoldat Österreich verlassen, ist irrig:
Dies geschah bereits am 19. September um 20 Uhr. Am 29. Oktober 1955 sollen
sich zumindest 20 britische Soldaten mit ihrem kommandierenden Offizier, Oberst
E. T. Roberts, noch in der Kaserne Klagenfurt-Lendorf befunden haben.
Am 14.
Dezember 1955 wurde Österreich Mitglied der Vereinten Nationen.
Österreich
war mit dem Staatsvertrag der einzige europäische Staat, der nach 1945 bis zur
samtenen Revolution 1989 auf friedlichem Weg frei von allen Besatzungsmächten
wurde. In der Zeit des Kalten Krieges wurden das Anschlussverbot und die
immerwährende Neutralität dahingehend interpretiert, dass der Beitritt zur EWG
Österreich nicht erlaubt sei. So trat Österreich 1959 mit Wirkung vom 1. Jänner
1960 der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) bei, der damals auch
Norwegen, Schweden, Dänemark, Großbritannien, Portugal und die Schweiz
angehörten. Erst 1995 wurde es Mitglied der Europäischen Union.
Mythisierung
des Staatsvertrags
Gedenktafel im Fußboden des Marmorsaals im
Oberen Belvedere, Wien
Wunsch nach
Freiheit
Im
Bewusstsein der Bevölkerung hat der Staatsvertrag bis heute ungebrochen einen
hohen emotionalen Stellenwert. Die Vertragsunterzeichnung gilt als Meilenstein
der Zweiten Republik. So war in der politischen Rhetorik mit der fast zehn
Jahre währenden Forderung nach der Unterzeichnung des Vertrags stets eine
Einforderung der Freiheit und Souveränität Österreichs aufs engste verbunden
worden und der Begriff Freiheit fungierte als prominentes Leitvokabel jener
Zeit.
Positiver
Wert Neutralität
Mit dem
Erreichen dieses Ziels wandelte sich das zentrale Motiv, das mit dem
Staatsvertrag verbunden wurde, schlagartig. Ab sofort stand der schriftlich
niedergelegte Vertrag als Garant für die immerwährende Neutralität des Landes,
die in der politischen Überzeugungsarbeit als höchst positiver Wert propagiert
wurde und über Jahrzehnte bis zum EU-Beitritt Österreichs fixer Bestandteil des
österreichischen politischen Bewusstseins war. Die Neutralität selbst ist –
entgegen oftmaligen Annahmen – nicht Bestandteil des Vertrags, war aber
politische Vorbedingung der Sowjetunion (siehe Abschnitt Moskauer Memorandum).
„d’Reblaus“
Zu den
Zeugnissen des besonderen Stellenwerts des Staatsvertrags zählt nicht nur der
Umstand, dass Bundeskanzler Julius Raab das Attribut Staatsvertragskanzler
erhielt; dazu zählen auch volksnahe Geschichten in Zusammenhang mit der
Unterzeichnung des Vertrags, die von einem politischen Mythos des Dokuments
zeugen.
Außenminister
Figl, der auch bei politischen Gegnern beliebt war, wurde vom Volk eine gewisse
Trinkfestigkeit zugeschrieben. Daher war lange Zeit die Legende verbreitet
worden, Raab und Figl hätten den russischen Außenminister Molotow in
Heurigenstimmung von der Streichung des Hinweises auf Österreichs
NS-Vergangenheit aus der Präambel überzeugen können. In einer Karikatur von
Hanns Erich Köhler für die Münchner Zeitschrift Simplicissimus mit dem Titel
Wiener Charme in Moskau wurde der Zither spielende Raab dargestellt, dem Figl,
während die russischen Gesprächspartner bereits in Tränen ausbrechen, ins Ohr
flüstert: Und jetzt, Raab – jetzt noch d’Reblaus, dann sans waach! (Die Reblaus
war ein beliebtes Heurigenlied; sans waach = sind sie weich = sind sie milde
gestimmt und bereit nachzugeben.) Diese Zither Raabs sowie die Noten, auf denen
sich auch Notizen der Russen befinden, tauchte 2011 wieder auf und wird im
Julius Saal der Hypo Noe Gruppe in St. Pölten ausgestellt.
Tatsächlich
handelte es sich aber um das moralische Argument, daß die so genannte
Verantwortungsklausel ein Schuldmal für den jungen Staat sei, das als Hypothek
für die Entwicklung des jungen Staates nicht förderlich sei.
Die
entsprechenden Textstellen der Moskauer Deklaration hinsichtlich der
Wiederherstellung Österreichs als unabhängiger Staat und die Streichung der
Schuldklausel aus der Präambel des Staatsvertrags galten jahrzehntelang als
wesentliche Argumente zur Aufrechterhaltung der so genannten Opferthese, die
oft als „Lebenslüge der Zweiten Republik“ bezeichnet wird.
Brasiliens
Initiativen 1952–1954
Der Tiroler
Historiker Norbert Hölzl verknüpfte 2011 die erste Kaisersgattin von Brasilien,
Dona Leopoldina aus dem Haus Habsburg, mit den für Österreich angeblich
überraschenden Initiativen Brasiliens für den raschen Abschluss des
Staatsvertrags. Der brasilianische Präsident Getúlio Dornelles Vargas habe
Außenminister Karl Gruber 1952 überraschend nach Rio de Janeiro eingeladen und
ihm mitgeteilt, Brasilien als eine der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs
fühle sich „moralisch verpflichtet“, etwas für Österreich zu tun.
Brasilien
erreichte hierauf bei der UNO mit der Bewegung der Blockfreien Staaten eine
Resolution, die die Alliierten aufforderte, die Staatsvertragsverhandlungen
ernsthaft weiter zu betreiben (siehe oben). Die Vertreter der Ostblockstaaten
hätten bei der Abstimmung im Dezember 1952, bei der keine Gegenstimmen
abgegeben worden seien, den Saal verlassen. 1953 und 1954 habe dem
österreichischen Generalkonsul in Sao Paulo Otto Heller zufolge Präsident
Vargas die prominentesten Außenpolitiker des Landes dazu angehalten, bei den
Westmächten den ausstehenden Staatsvertrag einzumahnen. Die Bundesregierung in
Wien habe sich 1954 mit einer großen Brasilien-Ausstellung im Naturhistorischen
Museum Wien für die diplomatische Unterstützung bedankt. Es bleibt offen,
welche praktischen Auswirkungen auf die Verhandlungen die Initiativen
Brasiliens gehabt haben.
„Österreich
ist frei!“
Bei der
Vertragsunterzeichnung im Schloss Belvedere fielen als Abschlusssatz der
Dankesrede Figls auch seine berühmten Worte Österreich ist frei! – eines der
bekanntesten politischen Zitate der jüngeren Geschichte Österreichs. Der Satz
wurde im Marmorsaal gesprochen und nicht, wie oft angenommen, auf dem Balkon
bei der Präsentation des Vertrages. Dieses bis heute festgefahrene
Missverständnis hat seinen Ursprung in der medialen Berichterstattung, denn in
einer Dokumentation der Austria Wochenschau sind die Bilder, die Figl auf dem
Balkon bei der Präsentation des Vertrages zeigen, mit den nämlichen Worten
seiner Rede unterlegt worden. Diese öffentliche Präsentation auf dem Balkon
soll laut Berichten von Augenzeugen im Protokoll der Unterzeichnungszeremonie
nicht vorgesehen gewesen, sondern von Figl spontan initiiert worden sein.
Original des Vertrags
Lange Zeit
war der Allgemeinheit kaum bekannt, daß sich das Original des Staatsvertrags im
Staatsarchiv des Außenministeriums in Moskau und nicht in Österreich befindet.
Im österreichischen Staatsarchiv ist nur eine Abschrift vorhanden. Im so
genannten Jubiläumsjahr 2005 wurde diese Tatsache deutlich, als die
Vertragsurkunde aus Moskau nach Österreich geholt und auf der Schallaburg in
Niederösterreich sowie im Wiener Belvedere der Öffentlichkeit im Rahmen von
Ausstellungen erstmals gezeigt werden konnte.
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